20240102 Franck MittagsfrauDie Schriftstellerin Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen für ihre Werke erhalten. Für ihren Roman „Die Mittagsfrau“ erhielt sie2007 den Deutschen Buchpreis. Er knüpft an die gleichnamige slavische Sagenfigur an. Fragen über die Bedeutung von Identität und die moralische und idiologische Wertung der Mutterschaft werden aufgeworfen und müssen vom Leser selbst beantwortet werden. Ein herausfordernder Gesellschaftsroman.

 

Selma und Ernst Ludwig Würsich leben mit ihren Töchtern Martha und Helene in Bauzen. Martha ist Krankenschwester und Helene verwaltet die Druckerei der Eltern, während der Vater im Krieg ist. Selma zieht sich immer mehr in sich zurück, sammelt alles, was ihr in die Hände fällt, und baut sich damit eine eigene Welt auf. Die Kinder sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Helene, die klügere, will Medizin studieren, aber die Mutter ist dagegen. Ernst kehrt schwer verletzt und todkrank aus dem Krieg zurück, doch will Selma ihn nicht begrüßen. Selbst an seiner Beerdigung will sie nicht teilnehmen.

Anlässlich einer Erbschaft bekommen die Mädchen Kontakt zu Fanny, einer reichen Cousine ihrer Mutter, die in Berlin lebt. Auf ihre Einladung ziehen sie bei ihr ein. Martha arbeitet wieder als Krankenschwester. Sie trifft ihre Jugendfreundin wieder, mit der sie eine lesbische Beziehung führt. Helene arbeitet in einer Apotheke, besucht ein Abendgymnasium und wird auch Krankenschwester. Sie ist verliebt in einen Studenten. Sie wollen heiraten, doch er stirbt bei einem Verkehrsunfall. Helenes Welt stürzt zusammen.

Sie lernt Wilhelm kennen, der sich sehr um sie bemüht. Nach einem Besuch bei ihrer psychisch kranken Mutter, die mittlerweile in ein Heim eingeliefert worden ist, willigt sie auf Wilhelms Drängen zur Heirat ein. Er besorgt ihr, die Halbjüdin ist, reine Abstammungspapiere und gibt ihr den Vornamen Alice. Mit der Heirat hat sie eine neue Identität: Alice Sehmisch. Sie ziehen nach Stettin. In der Hochzeitsnacht bemerkt er, dass sie keine Jungfrau mehr ist. Er fühlt sich betrogen und verachtet sie. Er zieht sich zurück und lässt sie mit dem „Balg“, für das er nicht aufkommen will, zurück. Sie stürzt sich in die Arbeit und lässt ihr Kind Peter von einer Nachbarin und später im Kindergarten betreuen. Peter liebt seine Mutter, er will sie ständig an der Hand oder am Rock anfassen. Immer mehr Verletzte müssen betreut werden und sterben. Alice ist an ihrer Leistungsgrenze. Stettin wird zerbombt, die Russen ziehen ein und Peter wird Zeuge, wie seine Mutter von drei Soldaten vergewaltigt wird. Sie machen sich auf die Flucht. Auf einem Umsteigebahnhof setzt sie Peter mit seinem Koffer auf eine Bank. Er solle auf sie warten. Doch Alice kommt nicht zurück. Sie will Martha, die als Halbjüdin in ein Arbeitslager gekommen ist, suchen.

Peter kommt zu Wilhelms Bruder auf einen Bauernhof, wo er arbeitet und geduldet wird. Als Alice ihn zehn Jahre später besuchen will, versteckt er sich im Heuboden, bis sie den Hof wieder verlassen hat. Er kann seiner Mutter nicht vergeben.

Schon im Prolog wird der Leser mit der Kindsaussetzung konfrontiert und somit in die Bewertung der Tat einbezogen, die er selbst für sich vornehmen muss. Ohne Wertung werden ihm dazu reine Fakten geliefert: Helenes lieblose Mutter, die Beziehung zu ihrer älteren Schwester Martha, die Liebe zu Carl, der tödlich verunglückt, und die unglückliche Ehe mit Wilhelm. Fragen nach Mutterschaft wollen beantwortet werden: Bedeutet sie Selbstaufgabe? Ist sie selbstbestimmt? Wie lässt sie sich mit eigenen Lebensvorstellungen, Beruf und Karriere vereinbaren? Eine weitere Frage ist der Zusammenhang mit der Mittagsfrau. Es sind viele Fragen offen. Ein herausfordernder, lesenswerter Roman.