Daniela Dröscher wurde 1977 in München geboren, wuchs in Rheinland-Pfalz auf und studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London. In ihrem Roman „Lügen über meine Mutter“ beschreibt sie das Leben einer Ehefrau in den Achtzigern. „Das Unglück meiner Mutter lastet wie Blei auf meinen Schultern und so ist ihre Geschichte auch die Meine,“ sagt die Autorin und schreibt ihren Roman als eine Autofiktion mit den Augen einer Sechsjährigen und reflektiert die Szenen sogleich analytisch und sozialkritisch als erwachsene, akademisch gebildete Tochter. Sie will ihrer Mutter Geheimnisse entlocken, um sie zu verstehen, sie zu rehabilitieren. Auf keinen Fall mehr will sie ihre Mutter durch die Brille ihres Vaters sehen. Sie schreibt dieses Buch im Einverständnis mit ihrer Mutter, die sie sogar auffordert „Fang schon an!“
Der Roman beschreibt das Leben der sechsjährigen Ela, die zwischen der beschwichtigenden Mutter, dem leicht aufbrausenden Vater und den zerstrittenen Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits steht. Sie findet ihre Mutter schön und versteht nicht, weshalb ihr Vater ihr ständig vorwirft, zu dick zu sein. Ja, er macht seine Frau sogar für seinen stagnierenden sozialen Aufstieg verantwortlich, weil sie keine „Vorzeigefrau“ sei. Ela merkt aber auch, dass sich ihre Sicht im Laufe der Zeit der des Vaters annähert: Situationen, in denen sie sich ihrer Mutter schämt. Sie erlebt mit, wie ihr Vater die Mutter demütigt, indem er ihr ständig ihr Gewicht vorhält, sie zu immer neuen Diäten verpflichtet und sie sogar vor seinen Augen auf die Waage treten lässt.
Elas Mutter ist bescheiden und mit ihrer Arbeit als Fremdsprachensekretärin zufrieden. Sie braucht keinen sozialen Aufstieg. Aber zur Verbesserung des Familieneinkommens will sie ein Fernstudium in Französisch machen, damit sie zur Chefsekretärin befördert werden kann. Prompt kommen die niederschmetternden Bemerkungen des Vaters, sie habe ja kein Abitur und keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das könne ja gar nicht gehen.
Immer ist sie bedacht, die Kinder von ihren Sorgen nichts merken zu lassen. Sie hat ein großes Herz und Empathie für andere. Gegen den Widerstand ihres Mannes und der Schwiegereltern nimmt sie Jessie auf, um ihr eine Heimeinweisung zu ersparen. Auch die Pflege ihrer dementen Mutter übernimmt sie. „Sie hat Mitgefühl für alle, denen das Leben schlimm mitspielt. Doch eine einzelne Frau kann sich nicht um unendlich viele Menschen kümmern. Empathie und Sorge sind begrenzte Ressourcen“. Was sie sich zumutet, grenzt an „Selbstausbeutung“. Sie rackert sich von morgens bis abends ab und er sagt: „Ich weiß nicht, was du den ganzen Tag machst.“
„Kaum etwas ist meiner Mutter so wichtig wie ihre finanzielle Unabhängigkeit. Geiz ist ihr zutiefst fremd.“ Dass eine Frau zu der Zeit ein eigenes Konto hat, ist ebenso ungewöhnlich wie ihre Berufstätigkeit ohne Zustimmung des Ehemanns. Wohltätige Spenden erbosen ihren Ehemann, weil sie sie ohne sein Wissen tätigt oder weil er sie als Verschwendung empfindet.
Ihre Mutter habe „drei Umstände bei ihrer Heirat nicht bedacht: Die Dorfgemeinschaft, die Schwiegermutter und die Bedürfnisse des Prinzen“. Für die Dorfgemeinschaft und ihre Schwiegermutter ist sie die „Fremde aus dem Osten“. Fehlende Privatsphäre, wie kein eigener Briefkasten, führen zu einer ständigen Kontrolle durch die Schwiegermutter.
Erst als die Kinder aus dem Haus sind und Oma Ella verstorben ist, sie also aller Pflichten enthoben ist, nimmt sie ihren Koffer und verlässt nur mit dem Nötigsten still das Haus, um ihr eigenes Leben zu führen.
Elas Vater bleibt nicht im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb, sondern wird Zeichner für Spezialgetriebe, ein „sauberer Beruf“. Er will unbedingt den sozialen Aufstieg und Anerkennung im Betrieb und im Dorf. Er erträgt nicht, dass er in seiner Firma nicht befördert wird, und sieht im Übergewicht seiner Frau den Grund dafür.
Immer wieder hält er seiner Frau ihr Gewicht vor, oftmals in einer verletzenden Art. Eine Diät nach der anderen erlegt er ihr auf. Er bedient sich sogar seiner Tochter. Sie solle der Mutter sagen, dass sie abnehmen solle.
Er plant ein teures Bauvorhaben, kauft sich so nebenbei ein neues Auto und einen weißen Motorroller als Belohnung für seine Arbeit. Als seine Frau das Erbe ihrer Eltern bekommt, baut er von ihrem Geld sofort ein großes Haus und macht ohne ihr Wissen riskante Aktiengeschäfte. Er ist der „Prinz“.
Daniela Dröscher beschreibt sehr genau die patriarchalische Unterdrückung der Mutter, ihre Demütigungen und ihren eisernen Willen, die Kinder nichts merken zu lassen. Beeindruckend, wie eine starke Frau mit einem weiten Herz aus Verantwortung für die ihr Anvertrauten eine solche Ehe erträgt. Nicht umsonst ist das Buch für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen worden. Es ist absolut lesenswert.