Kristine Bilkau wurde 1974 in Hamburg geboren. Sie ist Journalistin und Schriftstellerin und gelangte 2022 mit ihrem Roman „Nebenan“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Der Roman spielt 2017 in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein, der durch den Nordostseekanal geteilt wurde. Die hohe eiserne Brücke lässt vermuten, dass er nahe Rendsburg liegt. Sie beschreibt das Sterben eines Dorfes und das Auflösen der sozialen Bindungen, die entstehende wirtschaftliche und soziale Leere.
Astrid, eine sechzigjährige Hausärztin, ist in dem Ort aufgewachsen. Ihr Mann, Andreas, ist Lehrer und beschäftigt sich nach seiner Pensionierung mit Lesen, während sie voll in der Praxis arbeitet. Sie steht mitten im Leben. Ihr Motto: Gerade seinen Weg gehen und keine Angst zeigen. Sie hat sich im Griff: Trotz ihrer Angst, als sie den Drohbrief erhalten hat, „widersteht sie dem Gedanken, sich umzudrehen. Sie wird nicht damit anfangen, sich verfolgt zu fühlen, in einer Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat.“ Ihre Freundin Malie sagt ihr vorwurfsvoll: „Bei dir geht es darum, dass du alles und dich selbst sofort im Griff hast,“ Astrid möchte ihre alte Freundschaft wiederherstellen, Malie etwas Liebes sagen, doch „sie weiß nicht, wie das bei Malie ankommt“.
Als Hausärztin hat Astrid gelernt, sich professionell um Leute zu kümmern. Im privaten Bereich ist das anders. Als Malie im Dorf gemieden wird, weil ihr Sohn an einer Tierquälerei beteiligt war, überhäuft Astrid sie mit Ratschlägen, bis diese ihr sagt: „Du könntest dich weniger einmischen!“ Schließlich zieht Malie sich zurück. Auch Elsa wird von Astrid betreut. Sie fühlt sich ihr verpflichtet, weil Elsa für sie die Mutterrolle eingenommen hat und sie es Ihr zu verdanken hat, dass sie studieren konnte. Aber sie kümmert sich zu sehr und Elsa wehrt sich gegen Overprotection..
Julia, Ende dreißig, zieht von Hamburg in den Ort. Auf der Suche nach einem Laden, in dem sie ihre Keramik brennen und verkaufen und Kurse für Erwachsene anbieten kann, ist sie erstaunt über die hohen Mieten trotz des Leerstandes.
Sich hier einzuleben, neue Kontakte zu knüpfen, hatte sie sich nicht so schwierig vorgestellt. „Sich um jemanden zu sorgen, wie sehr wünscht sie sich das.“ Doch Julia ist zurückhaltend. Sie hat Angst, anderen zu nahe zu kommen. Sie ist froh, dass die Frau, die interessiert in ihr Schaufenster sieht, an der Ladentür vorbeigeht und nicht eintritt. Sie verkauft lieber online. Der Wunsch nach einem Kind, um das sie sich kümmern kann, „erdrückt sie“ fast und lässt sie alles versuchen, schwanger zu werden. Sie durchforstet das Internet, nimmt Medikamente ein und lässt sich sogar Eizellen implantieren. Doch alles ohne Erfolg. Das Verbleiben ihrer Nachbarn, einer fünfköpfigen Familie, macht ihr Sorgen. Tritt sie mit einer Vermisstenanzeige der Familie zu nahe? Sie möchte sich um „den Jungen“ kümmern, den sie am und später im Nachbarhaus traf. Aber Wolfgangs Angebot, Töpferkurse für Jugendliche zu geben, lässt sie verstreichen aus Angst, sie könne nicht mit Teenagern umgehen. Sie will Kontakt zu anderen Menschen, aber zieht sich im letzten Augenblick immer wieder in ihr Schneckenhaus zurück. „Wäre sie nicht so zögerlich! Da fürchtet sie sich davor, keine Menschen um sich zu haben, aber bemerkt nicht, dass diese Menschen da sind. Sie müsste nur endlich reagieren.“
Astrid kennt den Ort genau und sieht, wie ein Haus nach dem anderen leer steht: der einst prachtvolle Gelbklinker, der langsam verfällt. Das Jugendhaus ist einsturzgefährdet, möglicherweise wegen eines Schadens am Fundament durch den Abriss des benachbarten Kaufhauses. Viele Schaufenster sind verklebt. Der Leerstand macht den Ort unattraktiv und öde. „Unaufhaltsam vertrocknet das Zentrum. Da helfen auch die Putztage für Schaufenster nichts, wie sie neulich veranstaltet worden sind. Durch die blitzblanken Fenster sieht man die schäbigen Teppiche und leeren Regale nur noch deutlicher.“
Die Leere greift auch auf das soziale Gefüge über. „Die sozialen Bindungen lockern sich und die Menschen ziehen sich in ihre Häuser zurück.“ Selbst bei Ehepaaren schleicht sich dieser Prozess ein: Der Mann, der in der Küche sitzt und seine Frau erst nach Stunden tot in der Badewanne findet. Astrid wird gerufen, um den Tod festzustellen, aber „es gibt auf dem Totenschein kein Kästchen für Achtlosigkeit.“ Die Bürgermeisterin will das Dorf neu beleben und will die Einwohner in die Planungen mit einbeziehen, doch an der Umfrage beteiligen sich nur knapp fünfzig Personen.
In normaler Sprache und einem erzählenden Schreibstil liest sich der Roman sehr gut. In zwei Erzählsträngen werden die Protagonisten sehr genau charakterisiert und deren Gefühle lebhaft und nachvollziehbar dargestellt.
In Sabine Bilkaus Roman greift eine beängstigende Leere um sich und erfasst sogar das soziale Leben. Die Einwohner ziehen sich immer mehr in ihr Haus zurück. Aber es gibt auch Leute, die sich kümmern wollen und wir erfahren, dass Caring eine Gratwanderung zwischen Überfürsorge (Astrid) und Einfühlungsvermögen (Julia) ist und dass man auch einmal übergriffig werden muss, wenn man sich um jemanden sorgt.
Ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt. Ich bin gespannt, wie es beim Buchpreis bewertet wird.