Annie Ernaux, geboren im September 1940 in Lillebonne, ist eine französische Schriftstellerin, die vorwiegend autobiographisch schreibt. Dabei überträgt sie ihre eigenen Erlebnisse auf die französische Gesellschaft wie z. B. ihren Aufstieg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. 2022 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. In ihrem Buch „Das andere Mädchen“ erzählt sie, wie sie zufällig von der Existenz einer Schwester erfährt. Die damit entstandenen Probleme und ihre Gefühle beschreibt sie in einem Brief an ihre Schwester.
Als umsorgtes Einzelkind erfuhr Annie im Alter von zehn Jahren, dass sie eine Schwester hatte. Zufällig hat sie ein Gespräch ihrer Mutter mit einer Kundin belauscht, in dem sie über ihr erstes Kind, ein Mädchen, das im Alter von sechs Jahren an Diphtherie gestorben ist, berichtet. „Sie sah aus wie eine Heilige. … Sie war viel lieber als die da.“ Annie wisse nichts von diesem Kind, weil sie sie nicht belasten wollten. Für Annie ist in diesem Augenblick eine Schwester geboren und sofort wieder verstorben. Damit ändert sich das Leben der Zehnjährigen. Sie kennt jetzt das Geheimnis ihrer Eltern, die nie über ihre Schwester gesprochen oder ihren Namen genannt haben und deren Bilder versteckt haben. Sie wagt aber nicht nachzufragen. Nur von ihrer Cousine erfährt sie etwas über ihre Schwester und deren Namen.
Annie war kränklich und die Eltern haben sich sehr um sie gesorgt. Als sie an Wundstarrkrampf erkrankte und dem Tod nahe war, hat sie hochdosiertes Serum bekommen und ihre Mutter hat ihr Lourdeswasser in den Mund geträufelt. Letzteres habe sie geheilt. Aber warum hat ihre Schwester kein Lourdeswasser bekommen? Es kommt Annie widersinnig vor, dass ihre Schwester, „die Heilige“, gestorben ist und sie, „der kleine Teufel“, gerettet wurde. Sie ist gestorben, damit Annie leben kann, denn zwei Kinder können ihre Eltern sich nicht erlauben. Bis zum sechsten Lebensjahr konnte Annie mit ihrer Schwester verglichen werden. Doch dann war sie allein der Stolz und die Hoffnung ihrer Eltern.
Zwar sind beide Kinder im Stammbuch mit Stempel eingetragen und „trotzdem bist du nicht meine Schwester. „Ich habe dich nie im Arm gehabt, mit dir gespielt oder mit dir in einem Bett geschlafen.“ Annie versucht mit Hilfe von Fotos und Erzählungen aus einer „Leerstelle“, einem „Mythos“ eine Schwester zu machen.
Annie Ernaux schreibt den Brief nicht an ihre tote Schwester, sondern an sich selbst. Will sie mit dem Brief eine „imaginäre Schuld“ begleichen oder ihre Schwester ins Leben zurückrufen, um sie dann erneut sterben zu lassen, damit sie abschließen kann? Die Frage nach dem anderen Mädchen beantwortet sie selbst: Sie sei das andere Mädchen, das weggegangen ist, das studiert hat und ihre soziale Schicht verlassen hat.