Zwei Tage vor Weihnachten schreibt Manfred seinen Wunschbrief. Voriges Jahr hat ihm die Mutter noch geholfen. Heute kann er es allein. Er sitzt auf dem Teppich. Vor ihm steht die kleine Leselampe. Auf der Schreibunterlage liegt der Briefbogen. Manfred hat keine Hausschuhe an, keine Socken. Der Füllhalter steckt zwischen der großen Zehe und der zweiten Zehe am rechten Fuß. Der linke Fuß drückt das Blatt nieder. Manfred schreibt mit dem Fuß. Er hat keine Hände. Seine Arme hören beim Ellbogen auf. So ist er auf die Welt gekommen. Er weiß nicht, warum! Niemand weiß warum!
Voriges Jahr ist Achims Wunschbrief lang gewesen. Er hat alles bekommen: die Eisenbahn, das Auto, den Legokasten, die drei Bücher. Heute schreibt Manfred nur einen Wunsch auf:
Schenk mir Hände!
Es gelingt ihm, das Blatt mit den Füßen in den Umschlag zu schieben. Auf den Umschlag schreibt er:
An das
Postamt „Christkindl"
in Salzburg
Dann klemmt er den Brief zwischen die Armstümpfe und legt ihn auf das Fensterbrett in seinem Zimmer. Am nächsten Tag riecht es gut in der Wohnung. Die Mutter backt Plätzchen. Manfred spielt mit der Eisenbahn. Die Mutter kommt aus der Küche. Sie sagt: „Manfred, gehe schnell einkaufen. Ich komme bald zurück." Manfred nickt. Er ist nicht allein. Der Vater arbeitet in seinem Zimmer. Nach einer Weile steht Manfred auf. Er geht in die Küche. Dort steht die Schüssel mit dem Backwerk. Ein Plätzchen ist auf den Tisch gerutscht. Es liegt ganz nahe am Tischrand. Manfred spitzt den Mund und schnappt es auf. Es schmeckt sehr gut.
Da sieht er die Gummihandschuhe der Mutter. Sie liegen auf dem Abwaschtisch. Hände! Finger! denkt Manfred. Mit dem linken Arm streift er die Handschuhe auf den Boden. Dann hockt er sich hin. Er steckt jeden Armstumpf in einen Handschuh. Mit den Zähnen zieht er sie hoch. Die Handschuhe sitzen fest. Manfred rennt ins Wohnzimmer und schreit: „Hände! Ich habe Hände!" Er tanzt im Zimmer umher und schreit immer wieder: „Hände! Ich habe Hände!"
Die Mutter ist zurückgekommen. Der Vater kommt aus seinem Zimmer. Da stehen die Eltern und schauen auf ihr Kind. Der Vater presst die Lippen zusammen und geht in sein Zimmer. Die Mutter schluckt. Auf einmal bleibt Manfred stehen. Er schaut auf die Handschuhe. Er jubelt nicht mehr. Er ist still.
Und dann schleudert er die Handschuhe weg, Wirft sich auf die Couch und weint. Die Mutter läuft zu ihm und nimmt ihn in die Arme.
„Manfred, wenn du groß bist, bekommst du Hände. Es gibt Menschen, die können Hände machen, künstliche Hände", sagt sie. Aber Manfred hört nicht zu. Später holt er den Brief und wirft ihn in den Abfalleimer. Am Abend geht er schlafen. Er betet. Aber er sagt nicht mehr: „Schenk mir Hände." Er weiß, er bekommt keine — auch nicht zu Weihnachten.
Elfirede Becker