RUHESTAND
In der Zeit, als ich auf meinen eigenen Ruhestand zuging, bzw. das Ruhestands-Datum für mich bedrohlich näher rückte, war ich ziemlich lange darauf bedacht, dieses niemanden gleich wissen und merken zu lassen.
Denn jedes mal, wenn die Tatsache doch zur Sprache kam, konnte ich mich nicht retten vor guten Ratschlägen oder Fragen, was ich dann wohl so vorhätte.
Immerhin schenkte mir jemand ein kleines Büchlein mit dem Titel: „Herzlichen Glückwunsch zum Ruhestand“ 1 . Darin sind launige Zeichnungen und Geschichten mit den Begriffen A wie Abend, Alter oder Angst bis Z wie Zeit, Zeitgeschehen oder Zenit enthalten.
Bei den ganzen Ratschlägen von Kollegen war mir dabei bald der Verdacht gekommen, dass es bei solchen Freundlichkeiten gar nicht so sehr um meine Zukunftsgestaltung ging, sondern primär und vielleicht noch unbewusst, um die eigene Angst vor dem Alter und dem vermeintlichen Nichts derer, die mir diese Ratschläge erteilten.
Oft genug hatte ich doch selbst Kollegen erlebt, die vor mir in den Ruhestand gingen und habe dabei mitbekommen, wie sie diesen Übergang meisterten oder auch mehr oder weniger nicht. Außerdem gab es Seminare, die für alle Kandidaten vor dem Ruhestand angeboten wurden, jedoch meist ausfielen mangels Beteiligung.
Da gab es die Einen, die noch einmal so richtig durchstarteten und anschließend ein Leben führten, das noch stressiger war als ihr Berufsleben, sie sich also im „Unruhestand“ befanden. Oder wie der Humorist Karl Valentin einmal sagte: „Heute gehe ich mich besuchen – hoffentlich bin ich zuhause!“ Da gab es welche, die nur noch von Urlaub träumten, diese Träume aber nicht verwirklichen konnten oder wollten und es gab auch welche, die vor lauter Langeweile dem Alkohol verfielen. Das alles gab mir schon zu denken und ich überlegte, zusammen mit meiner Frau, wie das denn wohl weitergehen sollte, wenn ich nicht mehr zum Dienst fahren würde und mit dem Ruhestand jeden Tag zu Hause wäre.
Nur Hobby? Nur Urlaub? Nur Familie? Nur Garten?
Zuerst einmal: frühes Aufstehen wie zu Dienstzeiten, das entfiel und das gefiel uns gut. Eigenartiger Weise konnte ich jetzt Abends noch Kaffee oder schwarzen Tee trinken und trotzdem bequem einschlafen. Mich beschäftigten nicht mehr – wachliegend – die Arbeit, die noch zu erledigen wäre, die Probleme, die noch gelöst werden müssten oder was ich auf keinen Fall vergessen dürfte. Meine Frau und ich waren frei, spontan Einladungen auszusprechen oder anzunehmen. Es gab keinen Zeitdruck mehr.
Der Beruf, so sehr ihn der Eine oder Andere mochte, gab ja doch einen Sinn. Es konnte etwas gestaltet und eingebracht werden, je nachdem, auf welcher Position man stand. In dem Büchlein, das ich oben beschrieb, gab es jedoch auch einen Abschnitt, überschrieben mit „Pensionierungstod“. Den erleiden solche Menschen, die in der Arbeit ihr ganzes Leben gesehen haben und die nach der Pensionierung keine Zukunftsperspektive mehr erkennen können, als gäbe es keine Volkshochschule, Reiseveranstalter oder karitative Aufgaben. Außerdem vermeide ich, wenn es irgendwie geht, an Treffen früherer Dienststellen teilzunehmen. Und, wenn doch, vermeide ich, den dort heute Tätigen, Ratschläge zu erteilen. Sie wollen nicht hören, wie früher der Dienst ablief und welche Fragen sich damals stellten. Aber mich interessiert schon, wie die Aufgaben heute erledigt werden. Ich interessiere mich für alles Neue und möchte auch daran teilhaben. Das geht zwar langsamer als früher, aber – ich habe ja Zeit!
Aus dem Dienst auszuscheiden, heißt auch, sich damit zu befassen, dass mit dem neuen Leben auch die letzte Lebensstufe beginnt. Viele Menschen meinen ja, mit „Ruhe“ auch die „ewige Ruhe“. Das Altern, das Älterwerden ist für viele Menschen etwas, was sie nur schwer ertragen können. Ich gehe heute mehr zu Beerdigungen als zu anderen Festen, und die Geburtstage, zu denen wir eingeladen werden, sind meist älter als wir. Und wenn wir die Todesanzeigen lesen, vergleichen wir schon das Alter des, der Verstorbenen mit unserem Alter. Wenn man relativ gesund ist, lässt sich das Alter auch ertragen. Doch immer sollte die Devise gelten: „man ist so alt, wie man sich fühlt“.
Insgesamt bin ich mit meinem Ruhestand zufrieden. Ich habe verschiedene ehrenamtliche Aufgaben, die mir Freude machen und wo ich auch mal sagen kann: heute nicht! Das gibt eine gewisse Gelassenheit und selbstbestimmtes Leben. In meinem Ehrenamt kann ich kostenlos etwas zurückgeben, was mir die Gesellschaft früher geschenkt hat. Ich habe das Lesen und das Schreiben wiederentdeckt, mein Eintauchen in Geschichte. Ein „Pensionierungstagebuch“ schreibe ich insofern, als ich alles in Bildern festhalte und chronologisch sortiert, sowie mit Schlagwörtern versehen habe. Was die Nachwelt damit anfängt, soll mich dann nicht mehr interessieren.
Jedenfalls: DAS LEBEN NACH DEM LEBEN LÄSST SICH LEBEN!
1 Tomus-Verlag GmbH, München 1990 mit Zeichnungen von A. Tetzlaff und K.-H. Brecheis